Aus einer anderen Zeit

Ich bin der Welt abhanden gekommen…

Der Kontext war ein ganz anderer, unter dem Friedrich Rückert dieses Gedicht schon im 19. Jahrhundert schrieb, und doch, so finde ich, trifft dieses Gedicht und auch Mahlers Vertonung die aktuelle Stimmung in seiner Emotionalität und Zwiespältigkeit gut. (Schöne Interpretationen finden Sie hier https://www.youtube.com/watch?v=6Xu_ZRs8aE8  oder hier https://www.youtube.com/watch?v=XLfPJQWeaHI ).

Gerade, wenn man sich die Vertonung anhört, werden beide Teile und die Ambivalenz des Gedichtes deutlich: die Sehnsucht nach der oder dem anderen und auch die Sehnsucht nach sich selbst. Ist es nicht das, was wir gerade vermissen: die anderen. Und ist es nicht das, was wir gerade auch genießen, die Zeit mit uns selbst. Die ruhige Zeit mit uns selbst und die Konzentration auf das, was wir wirklich wollen, womit wir unsere Zeit verbringen wollen, wenn keine Ablenkung möglich ist.

Was ist es, dass uns abhanden gekommen ist

Ist uns das eine (der Kontakt, die Verabredungen, manchmal sogar der Job) nicht auch einfach „Abhanden gekommen“, wortlos, überraschend, unvorbereitet. Genau so traf uns die Pandemie und ihre Folgen, uns und unsere gesellschaftliche und wirtschaftliche Situation. Nicht gewollt war sie, oder gar aktiv gesucht oder aus Protest gewählt. Und doch, vielleicht gelingt es uns, bei aller Härte, die der persönliche Kontext mit sich bringen kann, in dieser Situation auch etwas poetisches, etwas bedächtiges zu finden, oder aber die Ruhe zu schätzen. Auch wird uns gerade durch den Verzicht, die Bedeutung von guten Beziehungen wieder gewahr. Nicht jede Kommunikation ist ins Digitale verlegbar, wir wollen Begegnungen – menschlich, nahbar, direkt.

Bedeutet die aktuelle Situation für die meisten von uns nicht auch, wieder mit Unsicherheit leben lernen, erkennen, dass es keine 100%ige Gewissheit gibt. Dass es hilfreich ist, flexibel zu bleiben und offen.

Was hilft uns

…, wenn bestehende Modelle und Sicherheiten nicht (mehr -grenzenlos-) funktionieren:

  • Eigene Routinen und Strukturen neu definieren.
  • Mutig sein und mal etwas anders machen. Das kann auch schon die ½ Stunde sein, die Sie morgens regelmäßig früher aufstehen oder abends früher zu Bett gehen.
  • Die Resilienz stärken, indem Sie Dinge tun, die Sie noch nicht getan haben. Dazu gehört auch eine ausgiebige Wanderung, deren Weg Sie noch nicht kennen. Ein Spaziergang allein im Wald, wenn das nicht zu Ihren Gewohnheiten gehört.
  • Sich selbst mit Selbstfürsorge behandeln – die eigenen Bedürfnisse und Grenzen beachten. Beobachten Sie, was Sie wirklich brauchen und Ihnen wichtig ist. Was und wer Ihnen in dieser Zeit gut tut. Tun Sie mehr davon, pflegen Sie diesen Kontakt…welche Möglichkeit gibt es dafür gerade?
  • Erkennen Sie, es ist nur ein Teil von Ihnen, der gerade etwas vermisst, die Geduld verliert, leidet. Es ist nicht alles und sie sind es nicht ganz. Nehmen Sie auch die positiven Empfindungen wahr. Beobachten Sie all das, was da ist.
  • Passen Sie auf sich auf!

Ich bin der Welt abhanden gekommen,
Mit der ich sonst viele Zeit verdorben.
Sie hat so lange von mir nichts vernommen,
Sie mag wohl glauben, ich sei gestorben.

Es ist mir auch gar nichts daran gelegen,
Ob sie mich für gestorben hält;
Ich kann auch gar nichts sagen dagegen,
Denn wirklich bin ich gestorben der Welt.

Ich bin gestorben dem Weltgewimmel
Und ruh’ in einem stillen Gebiet.
Ich leb’ in mir und meinem Himmel,
In meinem Lieben, in meinem Lied.
  FRIEDRICH RÜCKERT

Foto Anna Shvets bei www.pexels.com