Eine Übung
Es gibt eine – wie ich finde – schöne Übung im Buch der Achtsamkeitsübungen von Michael Huppertz: „Sollen – Wollen“ (S. 147). Hier sitzen sich die Übenden paarweise gegenüber und bilden Sätze mit „Ich sollte…“ oder „Ich müsste…“. Dies sind Aufgaben, von denen sie glauben, sie sollten/ müssten diese erfüllen. Huppertz nennt es „quasi dem aktuellen Über-Ich eine Stimme geben.“ Und die Übenden spüren nach, wie sich ihre Sätze anfühlen.
Wenn die Aufzählung nach etwa 5 Minuten beendet ist, wiederholt die Partner*in, die die Zuhörende war, die Aufträge für den Übenden. Notizen, die sie sich beim Zuhören gemacht hatte, erleichtern das, „Eltern anrufen“, „mehr Sport machen“, „weniger arbeiten“…. gibt sie beispielsweise zurück. Jetzt formuliert der Übende neu „Ich entscheide mich dafür, X zu tun“ oder „Ich entscheide mich dagegen, X zu tun“. Dabei geht es nun um das Spüren der Varianten und um die Haltung des Entscheidens.
Es ist eine Übung, ein Experiment, es geht für die Beteiligten nicht darum, sich zu einer Entscheidung zu verpflichten. Es ist ein Hineinspüren in die unterschiedliche Wirksamkeit einer Haltung, des damit Seins, was noch zu tun ist. Stehen die Dinge unter einem „sollen/ müssen“ oder unter einem freien „wollen“, es ist ein Unterschied. Ein Unterschied, dem nachzuspüren sich lohnt, vor allem, wenn das Leben uns überfordert, die Zeit knapp ist, so vieles scheinbar getan werden „muss“, der Tag mal wieder nicht genug Stunden hat. Ein Gefühl, das wahrscheinlich die meisten von uns kennen.
Was sagt Hartmut Rosa?
Obwohl wir denken, durch Technologisierung und Digitalisierung Zeit zu sparen oder Erleichterung zu finden, bringt uns gerade dies in Zeitnöte. So spricht der Soziologe Hartmut Rosa im Gespräch mit Juan Moreno, ( Moreno +1 – Spiegel Podcast vom 8.11.2023 ) vom Phänomen der dynamischen Stabilisierung und stellt die Frage „Warum haben wir keine Zeit, obwohl wir sie ständig sparen?“ Rosa führt es darauf zurück, dass wir unsere Tage mit mehr ausfüllen als früher. Das Volumens dessen, was wir glauben, tun zu müssen, wird immer größer: „Wir machen viermal so viel und sind nur doppelt so schnell“, so Rosa.
Auf der einen Seite entlastet er die Menschen, indem er ihnen nicht die Schuld an dieser Entwicklung gibt, andererseits befürchtet er, dass wir den bestehenden Wohlstand nur erhalten können, indem die Beschleunigung fortgesetzt wird, es ein Wirtschaftswachstum gibt, weitere Innovationen entwickelt werden – Rosa gibt also auch keine Entwarnung. Kathrin Werner hat in ihrem Essay in der SZ vom 22.12.2023 dazu aufgerufen, „sich Zeit zu nehmen“. Ihre Beobachtung ist vergleichbar zu Rosa, die Menschheit wird durch die technologische Entwicklung immer produktiver, der Mensch selbst immer gehetzter. Gleichzeitig sehnt er sich nach Entschleunigung.
Nun haben die Pandemie und der Ausbau von Arbeit im Home-Office noch zu einem Verschwimmen der Grenzen von Arbeit und Selbst geführt. Oder umgekehrt gedacht, der Mensch sollte sich seiner eigenen Verantwortung bewusst sein und klar für sich entscheiden, ob er seine Zeit mit Arbeit oder Privatem verbringen will. Das Private können wiederum häusliche Pflichten sein oder aber auch Muße, die reinste Form des Nichtstuns.
Entschleunigen Sie sich selbst
Es hilft also nicht nur, sondern ist wichtig, bewusst diese Entscheidung zu treffen, ob etwas sein muss oder vielleicht auch nicht. Damit üben Sie sich in der Selbstwahrnehmung und gleichzeitig in der Haltung der Achtsamkeit. Und so können Sie für sich einen wesentlichen Beitrag zur eigenen Entschleunigung leisten.
„Oscar Wilde „Muße, nicht Arbeit, ist das Ziel des Menschen.“ Oscar Wilde
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